PersönlichkeitenJohann Heinrich Marmor
Johann Heinrich Marmor - religiös verfolgter Pietist
Um die Wende zum 18. Jahrhundert fand die pietistische Bewegung in Waldeck zahlreiche Anhänger. Zu diesen gehörte Johann Heinrich Marmor (1681 - 1741), Konrektor des Landesgymnasiums von 1707 bis 1711. Sein Versuch, eine neue, stark pietistisch geprägte Schulordnung durchzusetzen, stieß auf starken Widerstand. Mit seiner Schrift "Entdeckung des Unfugs" (1710) sollte Marmor in die Geschichte des Waldecker Pietistenstreits eingehen. Der Pietismus (von lat. pietas, Frömmigkeit) galt nach der Reformation als wichtigste Reformbewegung des deutschen Protestantismus. Die Pietisten betonten die subjektive Seite des Glaubens und sahen ein Ideal in der persönlich erlebten, gefühlsbetonten Frömmigkeit.
Johann Heinrich Marmor, "Entdeckung des Unfugs", 1710 (Bestand: SchA ALS)
Gegen Marmors Einstellung wurde sogar von der Kanzel gewettert. Der Konflikt spitzte sich im Winter 1708/09 zu, als der Konrektor bei grimmiger Kälte den Schülern des Gymnasiums erlaubte, ihre Hüte in der Kirche aufzubehalten. Nachdem es schließlich noch zu Auslegungsstreitigkeiten über das vierte Gebot kam ("Du sollst Vater und Mutter ehren"), wurde er öffentlich der Ketzerei beschuldigt.
Als Marmor sogar des Ehebruchs und der Blutschande bezichtigt wurde, entwickelte sich die Auseinandersetzung in eine Richtung, die kaum von einem modernen Skandalprozess übertroffen werden könnte. Um ihn vollends zu diskreditieren, wurden weitere Gerüchte gestreut.
Hausdurchsuchung, Beschlagnahmung, Verhaftung und Verbot seiner Schriften folgten. Schließlich wurde Marmor der Prozess wegen Majestätsbeleidigung gemacht, weil er seine Schrift dem Waldecker Grafen gewidmet hatte.
Darüber hinaus wurde Marmor der Verführung der Jugend angeklagt, weil er seine Schüler zu Disputationen des "Korbacher Hutstreits" angeregt hatte. In einem unbewachten Moment konnte er am 13. August 1711 aus der Untersuchungshaft fliehen und begab sich außer Landes, da das Damoklesschwert der Generalinquisition über seinem Kopf schwebte.
Johann Heinrich Marmors bedeutende Abhandlung "Entdeckung des Unfugs" wurde dankenswerter Weise von Ulrike Kühne (geb. Isenberg) dem Schularchiv der Alten Landesschule übereignet. Diese Schrift ist insofern für die Alte Landesschule von besonderer Bedeutung, da der in Rhoden geborene Johann Heinrich Marmor nicht nur eine Konrektorstelle am Korbacher Gymnasium bekleidete, sondern auf unnachahmliche Weise in die Waldeckische Geschichte eingegangen ist und auch auf die weiteren Geschicke der Landesschule Einfluss nahm.
So heißt es in der "Historia Pietistica Waldeccensis": "Sobald nun dieser junge hitzige und ad deisseminandum fanaticismum et pietismum ex funadamento wohl präparierte Kopf im Gymnasium ankam, so war gleich der Anfang der Neuerung gemacht".
Der Pietistenstreit in Waldeck verschärfte sich mit dem "Edikt contra Fanaticos et Pietistas" von 1711, in dessen Folge bereits der Umgang und das Korrespondieren mit Pietisten unter Strafe gestellt wurden, Schülern und Lehrern war untersagt, aktuelle Predigten zu erörtern, neue Themen ohne Billigung der Vorgesetzten zu behandeln und die Macht der Obrigkeit in kirchlichen Aspekten in Frage zu stellen. Dieses strikte Durchgreifen bedeutete das Ende des Pietismus in Waldeck. Marmors Werk kam auf den Index der verbotenen Bücher.
Historia Pietistica Waldeccensis, 1712, "dem Gymnasium zu Corbach […] zur 3 Säcularfeier 1879 von dessen dankbarem Schüler Jacob Wittgenstein in Berlin" übereignet (Bestand: SchA ALS). Hinweis auf Marmor siehe rote Markierung.
Bayerische Staatsbibliothek München, Bl. 1
1713 erschien Marmors "Species Facti und abgedrungene Schutz-Schrift, gegen eine voriges Jahr unter der Rubric Historia Pietistica Waldeccensis" herausgekommene "Ehren rührige Schmäh-Charteque [Schmäh-Schriftstück]. Darinnen die in gedachter Historia von dem Hoch-Gräfl. Waldeckischen Rath und Cammer-Junckern Carl Gottfried von Rauchbar, und seinem Helffer Johann Kleinschmieden, Superint. zu Corbach, gottloser Weise ersonnene und Gewissenloß ausgegossene boßhafte Unwahrheiten und Calumnien, mit unwiedertreiblichen Gründen, Original-Uhr-kunden und Protocoll, so theils bey dem Kayserl. Cammer-Gericht, theils bey der Hoch. Gräfl. Waldeckischen Regeirung produciret, und übergeben sind, gründlich widerlegt werden". Bereits der Titel dieser Widerlegung brachte wesentliche Ansätze seiner Argumentation auf den Punkt.
Der Streit hatte für die Schule aber auch eine gute Seite. Denn die reichhaltige Büchersammlung des geflüchteten Johann Heinrich Marmor wurde 1727 auf Befehl der fürstlichen Regierung dem Gymnasium übereignet. Damit erfuhr die Bibliothek eine bedeutende Erweiterung mit rund 400 Bänden verschiedenster Wissensgebiete nebst Disputationen, Hassiaca, Leichenpredigten und Programmen. Der Geflüchtete fand später Aufnahme als Hofmeister (Privatlehrer) bei Graf Wilhelm von Ysenburg-Wächtersbach und verstarb im Jahre 1741.
© Dr. Marion Lilienthal
Auszug aus:
Lilienthal, Marion, Die Alte Landesschule in Korbach. Ein Kaleidoskop aus fünf Jahrhunderten (1579 - 1962),
Band 1, Seiten 53-56.
Quellen:
Marmor, Johann Heinrich, Spezies Facti und abgedrungene Schutz-Schrift, gegen eine voriges Jahr unter der Rubric Historia Pietistica Waldeccensis" herausgekommene "Ehren rührige Schmäh-Charteque, o.O. 1713, S. 4, 14, 26, 39, 58, 73 [Bayerische Staatsbibliothek München].
Möller (heute Lilienthal), Marion, Verbotene Schrift kehrte zurück. Archiv und Oberstufenbibliothek im Jahr 2007, in: Jahresbericht 2007, Alte Landesschule, S. 30.
SchA ALS, Historia Pietistica Waldeccensis, 1712, "dem Gymnasium zu Corbach […] zur 3 Säcularfeier 1879 von dessen dankbarem Schüler Jacob Wittgenstein in Berlin" übereignet.
SchA ALS, Johann Heinrich Marmor, Entdeckung des Unfugs, 1710.
Stoecker, Hilmar-G., Die Lehrer des Gymnasiums zu Korbach (1579-1900), in:Geschichtsblätter für Waldeck und Pyrmont, 20/21. Band, 1922, S. 44f.